Jürgen

Löhle

Freier Journalist


Normale Härte

Je älter man wird, desto weniger wundert man sich über den Wahnsinn, der um einen herum tobt. Trotzdem bleiben genug Geschichten und Begebenheiten die man noch ein bisschen einordnen oder zuspitzen kann – am besten in einem Blog.

Die große Ruhe

Januar 22, 2015, Jürgen Löhle0 Kommentare

Der Umsturz in Ägypten und die schrecklichen Nachrichten über den IS-Terror halten viele Deutsche fern von den Winterzielen am Roten Meer – was für die wenigen Gäste gar nicht so schlecht ist.
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Landeanflug auf den „International Airport Marsa Alam“. Rechts funkeln die bizarren Dächer der kilometerlangen Riffe im türkisblauen Wasser, links geht die flache Wüste in schuppige Hügel über und dazwischen zieht sich, wie eine Narbe, die schwarze Landebahn durch den hellen Sand. Neben dem Rollfeld parken ein einsamer Bus und zwei kleine Elektrokarren mit Gepäckanhängern. Flugzeuge stehen hier keine, nicht ein einziges. Außer unsere Maschine wird an diesem Tag Ende November auch nur noch ein Jet aus Amsterdam erwartet. Vielleicht.
Willkommen am Roten Meer.
Der Bus fährt die knapp 150 Touristen etwa 40 Meter vom Flieger bis zum Gate. Keine zehn Minuten später stehen die Menschen mit ihren Koffern und einem Visa im Pass auf dem Vorplatz und blinzeln in die warme Wintersonne. Für ägyptische Verhältnisse eine Highspeed-Abfertigung, schließlich ist die Zeit vor Weihnachten in der Wüste eigentlich Saison und die ägyptischen Bürokratie sonst eher zäh. Auf einem riesigen Plakat wirbt der Flughafen mit 100 Direktflügen pro Woche in die ganze Welt, aber der Slogan wirkt wie aus einer anderen Zeit. Eine Armada an Kleinbusen und Taxen buhlt um die wenigen Leute und 20 Minuten nach der Landung versinkt der „International Airport“ wieder in tiefe Ruhe. Nur das Rascheln hunderter, windzerzausten Plastiktüten in den Schutzzäunen ist noch zu hören. Diese Plage überlebt offenbar jede Krise.
Wir fahren ein Stück an der Küste entlang gen Norden – vier Passagiere in einem Kleinbus, der Platz für Zwölf hätte. Ein Straßenschild weist nach Port Ghalib, aber da will kaum noch einer hin. Ein paar Taucher, die donnerstags im Hafen für eine Woche auf den Safaribooten einchecken, sonst ist das touristische Prestigeobjekt des kuwaitischen Milliardärs Nasser al-Kharafi eine meist verlassene, halbfertige Baustelle. Nach dem Tod Al Kharafis 2011 und der Dauerkrise am Roten Meer wird die Hotelstadt wohl auch nie fertig werden.
Wir rollen weiter, alle paar Kilometer markieren scheinbar aus dem Nichts auftauchende Alleen aus Palmen den Weg zu einem Ressort am Meer, oft rauscht der Bus aber auch an verlassenen Baustellen vorbei, manche sind bereits wieder am Verfallen. Die Wüste fliegt vorbei und im Magen stellt sich dann doch ein leichter Druck ein. „Ägypten? Willst Du dir den Kopf abhacken lassen?“ Sprüche wie die gab es zu Hause genug, aber sie scheinen generell zu wirken. In diesem Jahr kamen etwas über 620 000 Deutsche nach Ägypten, vor der arabischen Revolution waren es mehr als doppelt so viele. Und wenn man dann fast alleine außerhalb der gesicherten Anlagen auf der Straße unterwegs ist, wird es einem anfangs doch ein bisschen mulmig.
Ohne realen Hintergrund freilich. Seit dem „arabischen Frühling“ 2011 sind an der Küste zwischen Hurghada und Marsa Alam keine Anschläge auf Touristen dokumentiert. Gefährlich für die Gesundheit ist eher die oft ruppige Fahrweise der Taxis oder ein tiefer Schluck aus dem Wasserhahn. Der Terror der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi ist dagegen weit weg, ebenso die ägyptischen Extremistengruppen, die jüngst im Norden des Sinai der islamistischen Terrormiliz IS Treue geschworen haben. Aber Furcht ist eben nicht rational, da ändert auch der Hinweis des Auswärtigen Amtes nicht viel, dass die Urlaubsgebiete südlich von Hurghada sicher seien.
„Ich habe mich auch schon einmal ausfliegen lassen, aber nicht weil ich Angst hatte, sondern weil ich der Letzte im Hotel gewesen bin“, sagt Marc Hügi. Der Schweizer lebt seit neun Jahren am Roten Meer und leitet eine große Tauchbasis nördlich von El Quesir. Die Basis, angegliedert an ein Mövenpick Ressort, liegt an einem in der Tauchszene beliebtesten Hausriffe des Roten Meers. Ein paar Schritte über einen Steg und schon ist man drin in der Welt der bunten Fische und Korallen. Aber auch hier steht die Hälfte der Zimmer in den im nubischen Stilerbauten Bungalows leer. Für die wenigen Gäste ist das sicher kein Nachteil. Die Taucher gleiten ungestört in der Tiefe an den funkelnden Riffen der El Quadim Bucht entlang, am Strand ist Ruhe. Und wenn dann das Seeadler-Pärchen über der Bucht seine Kreise zieht oder nur ein paar Meter neben dem Hotelareal ein Fennek, ein scheuer Wüstenfuchs, in der Dämmerung neugierig herüberschaut, löst sich diese unbestimmte Skepsis einfach auf. Eine kuriose Situation – die Furcht vieler vor dem Land eröffnet denen, die trotzdem kommen, ein einmalig ruhiges Erlebnis.
Das Risiko, wenn es denn eines geben sollte, ist zumindest nicht sicht- oder fühlbar. „Mir ist in neun Jahren hier nie etwas passiert“, sagt Hügi. Und wird bestätigt: Ingrid und Peter Lorsbach aus dem Westerwald kommen seit 1998 jedes Jahr im November in die Bucht. „Ich fühle mich auf dem Markt in El Quesir als Frau sicherer als abends in Köln“, sagt Ingrid Lorsbach. Angst hat das Paar keine und Peter Lorsbach wischt die Diskussion einfach weg. „Was soll denn schon passieren“, sagt der begeisterte Taucher, „die Leute hier sind alle freundlich und in Ordnung.“
Das sieht man auch offiziell so. Radtrips in die Wüste, Besuche auf dem belebten Markt in El Quesir, Jeep-Safaris weg vom gesicherten Hotelareal – alles im Programm. Nur der Kontrast bleibt, wenn man zurück kommt und der Wachmann vor dem schwer gesicherten Tor mit dem Spiegel unter das Auto schaut.
Der Realität vom ruhigen und sicheren Urlaub auch ohne Schutzmauern ist trotzdem fragil. Ein terroristischer Anschlag und die Region wäre für Jahre leer gefegt. Das wissen auch die Menschen hier, die vom Tourismus leben und ein großes Interesse an Ruhe haben. Und nachdem die anhält, wächst das Geschäft mit den Gästen auch langsam wieder. 2015 wollen die deutschen Airlines 50 Prozent mehr Flüge anbieten, in Kairo rechnet man im kommenden Jahr mit 1,3 Millionen deutschen Besuchern. Schön für das Land und die Menschen – ob die Rückkehr der Touristen den seltenen Seeadlern, den Fischen, Korralen oder dem scheuen Fennek gut tun wird, ist aber ein ganz anderes Thema.
Zurück am Flughafen in Marsa Salam, heute gehen sogar drei Flüge nach Deutschland. Und da ist er dann, dieser seltsame Gedanke. Sollen sie ruhig noch ein bisschen Angst haben zu Hause, sonst ist es mit der himmlischen Ruhe hier bald vorbei.

Zehn-Schanzen-Schießen

Januar 13, 2015, Jürgen Löhle0 Kommentare

Der Winter ist ja so schön. Man kann herrlich endlose lange, völlig sinnentleerte Wochenenden in einer Art Schockstarre vor dem Fernseher verbringen. Die lieben Menschen von ARD und ZDF übertragen alles, was man in Schnee und Eis so tun kann. Ich schaue stundenlang zu und ab und zu denke ich, man könnte doch vielleicht etwas Neues erfinden, damit man künftig bis Ende April von Freitag bis Sonntag ununterbrochen Wintersport übertragen kann.
Wie wäre es zum Beispiel mit einem Zehn-Schanzen-Schießen. Biathleten feuern – natürlich nur mir Farbpatronen – auf Skispringer? Stehend auf die langen Österreicher, liegend auf die Japaner. Wer von den Skijägern liegend einen Ösi trifft, muss mit Sprungski in die Strafrunde und darf von den Springern mit hartgefrorenen Eisklumpen beworfen werden. Und wer versehentlich einen Haltungsrichter oder Trainer markiert, bekommt ein Sternchen. Bei drei Sternchen gibt es ein Jahr Freibier, 1000 Liter Heizöl oder einen Expertenvertrag beim Fernsehen. Die Wettbewerbe werden klassisch und im freien Stil angeboten. Es gibt auch Staffeln und Mixed. Damit wäre der Wettbewerb genauso unübersichtlich wie vieles heute – nur lustiger.
Denkbar wäre auch eine Norddeutsche Kombination aus verschärftem Korntrinken und Skilanglauf, die wahlweise in Innenstädten und Stadien nördlich der Mainlinie ausgetragen wird. Der Sieger darf dann bei „DSDS“ vorsingen. Überhaupt sollte der Wintersport endlich weg von den Alpen. Eine Skiflug-WM in Lippstadt wäre überhaupt kein Problem, wenn sich die Granden der Stadt endlich zum Bau einer 600 Meter hohen Halle durchringen könnten. Dafür gibt es sicher öffentliche Gelder und in Dubai Architekten, die so was können. Und so würde endlich auch die Geburtsstadt der Rummenigges gewürdigt.
Als weitere Disziplinen bringen wir den Nasa-Lauf in Florida auf Sand ins Gespräch, das Synchronspringen von der ganz normalen Schanze oder Eisschnelllauf mit Kinderwagen um den Manuela-Schwesig-Pokal. Der Sieger bekommt ein Jahr doppeltes Kindergeld und eine Einladung zum alljährlichen Paarungslauf auf der Kitzbüheler Streif.
Eine schöne Idee wäre auch Eisstockrodeln auf Naturbahnen. Beim Doppelsitzerwettbewerb darf der Griff des Eisstocks ein wenig verlängert werden. Unser Favorit ist allerdings das klassische Gebücktfrieren im ländlichen Raum. Bei unserem Testwettbewerb gelang es Fredel Oberuntergurgler in der 85-Kilo-Klasse, auf einer einsamen Hochalm im Steirischen viereinhalb Stunden auszuharren. Leider musste sein Weltrekord nach einem positiven Test auf Bommerlunder wieder gestrichen werden.

Servus die Wadeln

Dezember 3, 2014, Jürgen Löhle1 Kommentar

Als Best-Ager, also als Mensch jenseits der 50, hat man ja nicht mehr allzu viel zu sagen. Das Interesse der Werbeindustrie am Mensch endet mit 49, die Kinder finden ihre Alten in Facebook peinlich, bei DSDS darf man auch nicht mehr mitmachen, aber, ob man es glaubt oder nicht, wir fahren immer noch Ski. Und damit das auch so bleibt, ein paar Bitten aus dem Vorhof des Altersheims, schließlich füllen wir Best-Ager ja auch abseits der Ferienzeit die Betten. Und wir kaufen den besseren und teureren Wein als die Jungen. Also zuhören.

Bitte Nummer 1: Seid so gut und denkt beim Neubau von Skihütten daran, dass man mit den klobigen Skistiefeln nur schwer Treppen steigen kann. Dummerweise ist in einer normalen, urigen Hüttn‘ der Lokus IMMER im ungeheizten Keller, die Treppe dorthin IMMER, eng, steil, nass und voll. Schon junge, orthopädisch noch kerngesunde Menschen, stolpern den Notdurft-Laufsteg hinab, als hätten sie drei Bandscheibenvorfälle auf einmal. Selbst der eleganteste Skilehrer wirkt da ein wenig hüftsteif und wenn unsereins mit zwei, drei Schnapserl im Blut abwärts wackelt, droht der Kreuzbandriss. Es muss ja nicht gleich die Rolltreppe zum Klo sein, wie auf dem Südtiroler Kronplatz. Aber ebenerdig wäre schon nett.

Nummer2: Bitte, bitte verschrottet die letzten alten Sessellifte, die sich nicht von selbst auskuppeln und dir mit Karacho die Kniekehlen zertrümmern. Es gibt zwar Menschen, die man früher „Lift-Toni“ nennen durfte (heute: Aufstiegshilfe-Assistant-Supervising-Manager), die nehmen aber nur für fesche Madeln den Schwung aus dem Sessel. Früher hat man sich mit einer eleganten Halbdrehung und ausgestrecktem Arm dem rasenden Stahlstuhl erwehren können. Wer aber jenseits der 50 kein Yoga macht oder kein genetischer Günstling ist, verhakt sich dabei gerne ratzfatz den Ischias. Nebenbei – es gibt in den Alpen auch noch vereinzelt Einzel-Tellerlifte mit ausgeleiertem Federzug. Das sind Kastrationsmaschinen erster Güte, wobei das, abgesehen von den Schmerzen, eigentlich nicht schlimm wäre. Eine späte Vaterschaft gönnen sich hierzulande schließlich nur Rockstars, Schauspieler oder Politiker.

Dritte Bitte: Schaltet das Techno-Gewummer an den Schneebars ab. Dumpfe Bässe können durchaus Lawinen auslösen und erinnern in ihrer Nervigkeit an Jugend-Boutiquen. Es muss ja nicht unbedingt der Hinterseer sein (Servus die Wadln), aber ein wenig alpine Folklore täte schon passen. Wenn nicht hier, wo dann? Auf jeden Fall ist Almdulijöh besser als Rammstein auf 2500 Meter oder Sauflieder von Menschen, die keiner kennt und die wohl nicht mal prominent genug fürs Dschungelcamp wären.

Und schließlich: Bitte, bitte, liebes Skivolk, kauft euch Mützen, die nicht aussehen wie dämliche Faschingskappen, schlechte Perücken oder die übergroße Mausohren dran haben. Helme sind schlichter und schöner und wer mein Auge nicht mit Zotteln oder seltsamen geometrischen Figuren auf dem Kopf quält, darf meinethalben in der Liftschlange rauchen, eine verspiegelte Sonnenbrille tragen oder grüne Handschuhe.

Das wäre es dann schon. Danke und Ski heil.

„Sie können die DDR nicht einfach leer kaufen“

November 10, 2014, Jürgen Löhle1 Kommentar

Eine Geschichte zum Mauerfall aus dem Fußball

Fangen wir mit einer These an. Ohne ein Veto von Helmut Kohl wäre der VfB Stuttgart 1992 nicht Deutscher Fußballmeister geworden. Klingt ein wenig seltsam – könnte aber durchaus stimmen.

Der Start der historischen Geschichte datiert dagegen auf Samstag den 11. November 1989. Auf dem Berliner Flughafen landet der Leverkusener Bundesligamanager Reiner Calmund. „Magisch angezogen“ habe ihn der Mauerfall zwei Tage zuvor, sagt er heute, „ich wollte dabei sein, Berlin war immer schon meine Lieblingsstadt“. Aber „der Dicke“, wie ihn alle nennen, ist bei aller Euphorie dieser Tage auch ein gewitzter Manager, und so zieht es ihn nicht nur zum Athmo-Aufsaugen auf den Potsdamer Platz, sondern auch ins Olympiastadion im Westteil. Zweite Bundesliga steht auf dem Programm, Hertha BSC gegen Wattenscheid 09, normalerweise ein Kick, „bei dem du jedem Zuschauer einen Schnaps spendieren kannst und mit einer Flasche auskommst“, sagt Calmund. An diesem Tag pilgern 60 000 ins Rund, die allermeisten aus dem Osten, und Calmund spürt die ungeheure Kraft, die der Fußball ganz offensichtlich auch in der DDR hat.

Natürlich wusste der Manager, dass auch hinter der Mauer ein paar begnadete Kicker wohnen. Aber die waren unerreichbar für Westklubs, die konnte man weder anrufen noch hinfahren. Aber das war ja jetzt plötzlich anders, und während Calmunds Kollegen von München bis Dortmund noch über das politische Erdbeben staunten, wuchs in Calmund blitzschnell der Plan, die Besten aus dem Osten zu verpflichten – alle, und vor allem schnell, bevor die Herren Hoeneß und Kollegen auch noch aufwachten.

„Die Frage war nur, wie“, erinnert sich Calmund, „ich konnte zwar einfach in den Osten fahren, hatte aber weder Adressen und schon gar keine Erlaubnis für Spielerverhandlungen. Die Mauer war zwar offen, die DDR aber noch da.“ Gehindert hat Calmund das nicht. Als Erstes angelte sich der Dicke Andreas Thom, den besten Stürmer, den die DDR damals zu bieten hatte. Allerdings über Umwege: Calmund organisierte mit einer Notlüge („wir beobachten Toni Polster“) eine Fotografenakkreditierung für das Länderspiel Österreich – DDR am 15. November 1989 in Wien und schickte Wolfgang Karnath, sein Mädchen für alles, zur Kontaktaufnahme mit Thom ins Praterstadion. „Sieh zu, dass die Österreicher glauben, du wärst aus der DDR, und die aus der DDR müssen denken, du bist Österreicher“, gab er Karnath mit auf den Weg, der beim Spiel im Fotografenleibchen hinter der DDR-Bank stand. Ein paar Stunden später kehrte Karnath nach Deutschland zurück – mit der Adresse und Telefonnummer von Thom und mit einem Termin am nächsten Abend in Berlin.

Am nächsten Tag fuhr der Leverkusener Manager gegen den Trabistrom Richtung Osten. Er hatte Blumen für Frau Thom dabei, ein paar Spielsachen für Tochter Janina, aber vor allem hatte er die Adresse. „Das hätten wir nie gefunden“, erklärt Calmund. Thom wohnte in einem privilegierten Wohnblock, da gab es keine Namen an den Klingelschildern. Thom war schließlich der Stürmerstar des Stasi-Klubs Dynamo Berlin und Liebling von Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit der DDR und damit Chef von knapp 280 000 Spitzeln. „Ich habe dann in der Wohnung auch erst mal laut mit der Tapete gesprochen, ich wusste ja, die hören mit“, erzählt Calmund, der den nervösen Thom beruhigte, indem er mehrmals laut sagte: „Keine Sorgen, ich mach‘ das gleich morgen offiziell.“

Was er dann auch tat. Der Portier im Gebäude des Deutschen Turn- und Sportbunds (DTSB) in der Storkower Straße staunte nicht schlecht als „ich da plötzlich anwatschelte, einen Brief mit der Bitte, mit Thom verhandeln zu dürfen, abgab und höflich eine Empfangsbestätigung verlangte“ (Calmund). Die hat er auch bekommen, aber erst nach zwei Stunden, in denen der Manager durch eine Glastür von nahezu jedem wichtigen Mitarbeiter des mächtigen Dachverbands des DDR-Sports beäugt worden war. Mit den offiziellen Stempeln auf dem Papier beruhigte Calmund dann auch Thom und hatte kurz darauf dessen Unterschrift. Thom verdiente von da an 12 000 Mark brutto im Monat plus Prämien. Was heute im Profifußball wie ein Trinkgeld anmutet, war damals viel Geld. Leverkusens Spitzenspieler Thomas Hörster und Christian Schreier bekamen auch nicht mehr. Geld war auch der Motor für die schnelle Bereitschaft der DDR-Funktionäre. Für Thom zahlte Leverkusen eine Transfersumme von etwa drei Millionen Mark – aus heutiger Sicht unvorstellbar günstig.

Parallel zum Coup in Ostberlin schickte Calmund seine Unterhändler auch Richtung Dresden, wo die Nationalspieler Matthias Sammer und Ulf Kirsten bei Dynamo im Team standen. Kurz danach hatte er auch die beiden für Leverkusen an der Angel, wobei ihm bei Kirsten half, dass der Stürmer Flugangst hatte und nicht zu Verhandlungen nach Mailand fliegen wollte. Zehn Tage nach dem Mauerfall waren damit drei der besten Kicker vom neuen DDR-Markt weggefischt. In Leverkusen kamen aber nur zwei an, und wäre es nach Helmut Kohl gegangen, sogar nur einer – womit wir beim Anfang der Geschichte wären. Als der Kanzler erfuhr, dass Calli die großen drei an Leverkusen gebunden hatte, faltete Kohl persönlich die Spitzen der Bayer-AG zusammen. Calmund: „Kohl hat denen gesagt, dass man es sich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht erlauben könnte, so kurz nach dem Mauerfall drei DDR-Nationalspieler in einem einzigen Westteam zu präsentieren.“ Laut Calmund sagte Kohl wörtlich: „Sie können die DDR nicht einfach leer kaufen.“

Die Bayer-Chefs kuschten, und Calmund, der „treue Konservative“, verfluchte innerlich seinen Kanzler. Es half aber nichts – Sammer ging nach Stuttgart, an das er gute Erinnerungen vom Uefa-Cup-Halbfinale mit Dynamo Dresden 1989 hatte. Kirsten wollte zunächst nach Bochum, behielt aber Calmund als stillen Berater im Hintergrund, der ihm zu einem Wechsel nach Dortmund riet und dem damaligen Manager Michael Meier schon sagte: „Kirsten wird definitiv zu euch wechseln.“ Der Deal war also so gut wie perfekt, als Gert-Achim Fischer, der Präsident des Leverkusener Fußballvereins seinen Manager anrief. Die Chefs der Bayer-AG hatten beschlossen, jetzt doch nicht mehr auf den Kanzler zu hören. Calmunds Auftrag: „Wenn du den Kirsten noch umbiegen kannst, dann tu es.“

Calmund fuhr nach Berlin, passte Kirsten am Flughafen ab, der gerade von einer Reise mit der Nationalmannschaft zurückkam. Calmund verfrachtete Kirsten in sein Auto und fuhr mit ihm nach Dresden. Drei Tage später war der Vertrag fix und Dortmunds Manager Meier dermaßen in Rage, „dass er mich mit Worten beleidigt hat, die ich dem Mann nie zugetraut hätte“ (Calmund). Aber er konnte es verstehen. „Ich selbst wäre umgekehrt wahrscheinlich handgreiflich geworden“, sagt Calmund heute.

Ulf Kirsten wurde zu einem großen Star der Bundesliga, am Ende seiner Laufbahn 2003 stand er mit 182 Toren auf Platz fünf der ewigen Torjägerliste. Was Kirsten nicht schaffte, gelang dagegen Sammer. Der wurde, Kohl sei Dank, mit dem VfB Stuttgart Meister. Aber das dürfte das Einzige sein, was Reiner Calmund an der Geschichte nicht so gut gefällt.

 

 

Soziale Marktwirtschaft?

Oktober 27, 2014, Jürgen Löhle2 Kommentare

Kann es sein, dass wir langsam zu einem Volk von Schulterzuckern werden? Dass einen nix mehr aufregt, dass eh alles wurscht, weil nicht änderbar ist? Ein kleines Beispiel: Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland nennt sich „soziale Marktwirtschaft“. Ein Begriff, den übrigens die  CDU in den 50ern entscheidend mitgeprägt hat. Zudem steht in der Verfassung, dass Eigentum auch verpflichtet.

Real ist von diesen Ideen kaum noch was übrig. Und manchmal auch gar nichts mehr. Da kauft also ein österreichischer Immobilienhändler, Spekulant und Investor vor ein paar Monaten Karstadt. Schon damals konnte man lesen, das könnte böse für die Beschäftigten bei Karstadt enden. Danach machte Herr Benko laut Verdi unwidersprochen folgendes: Als Inhaber der Immobilie in der Stuttgarter Königstraße erhöhte er die Miete für seine eigene Karstadt-Filiale so lange, bis das eigentlich profitable Kaufhaus nicht mehr besonders rentabel war. Und jetzt schließt er kommenden Sommer ab und schmeißt die Leute raus.

Ist das soziale Marktwirtschaft? Wir hier verantwortungsvoll mit Eigentum umgegangen?

Ganz sicher nicht, aber offenbar ist das so alltäglich, dass sich kaum noch einer aufregt. Ja schade sei es schon, hört man, aber zwischen Milaneo und Geber hätte es ja eh kaum noch Platz für ein Kaufhaus. Mag ja sein, dass es für die Filiale schwer geworden wäre – aber rechtfertigt das derartige Tricks? Wie gesagt, die Zahlen waren nicht schlecht, bis die Mietspirale so richtig lief. Mit den Grundwerten einer sozialen Marktwirtschaft hat die Abwicklung a la Benko jedenfalls gar nichts mehr zu tun.

Bedenklich ist aber vor allem, dass dies kaum noch auf Widerstand trifft. Ich habe jedenfalls aus dem Rathaus bisher nichts zu den Plänen gehört. Wenn ich etwas übersehen haben sollte, bitte ich um Aufklärung. Danke.

Ach ja – für den Standort in der Königstraße soll sich angeblich das irische Billigkaufhaus Primark interessieren. Dort kann man T-Shirts zum Preis eines Espresso kaufen, werden Klamotten qua Programm zu Wegwerfartikeln. Gegen Primark gibt es massive Vorwürfe wegen Überwachung ihrer Mitarbeiter vor allen aber als Profiteur übelster Kinderarbeit in Asien. Alles auf jeden Fall weit weg von sozialer Markwirtschaft. Primark weist alle Vorwürfe natürlich zurück – aber zumindest hier gibt es eine Reaktion. Stuttgarts OB Fritz Kuhn rät seinen Kindern, nicht bei Primark einzukaufen. Ob das mehr als ein Schulterzucken ausgelöst hat, ist freilich nicht bekannt.

In eigener Sache

Oktober 9, 2014, Jürgen Löhle0 Kommentare

Falls jemand am 21. Oktober Zeit und Lust hat – ich wäre da.

http://www.filderstadt.de/,lde/start/freizeit/Aktuelles.html

Da auf dem Link der Ort fehlt, hier ist er:

Stadtbibliothek
Bernhausen
Volmarstraße 16
70794 Filderstadt

 

3,1 Millionen gekillte Tiere – für was?

September 12, 2014, Jürgen Löhle0 Kommentare

Das Bild zeigt einen Affen mit einem derart gequälten Gesichtsausdruck, dass im Betrachter Wut aufsteigt. Ein anderes Äffchen kratzt sich traurig seinen stark blutenden Kopf. Bilder aus dem Max Planck Institut in Tübingen, Bilder von Tierversuchen, die natürlich zuerst einmal alle schockieren, zumal RTL seine Filme natürlich so inszeniert, dass es Quote gibt.

Und dann geht sie wieder los die Diskussion, was soll das eigentlich mit der angeblich wissenschaftlich notwendigen Tierquälerei? Aber das wird in dieser aufgewühlten Stimmung kaum diskutiert und der konkrete Fall selbst ist nach ein paar Tagen wieder vergessen. Für den Tübinger Fall habe ich mal nach den Argumenten geschaut. Also: Die Max Plancker sagen in einer episch langen Erklärung unter anderem: „Für die Weiterentwicklung und Optimierung beispielsweise von Hirnschrittmachern, wie sie bei Parkinson-Patienten eingesetzt werden, sind daher elektrophysiologische Ableitungen am Versuchstier nach wie vor unverzichtbar.“

Der Verein Ärzte gegen Tierversuche kontert dagegen: „Eine auf reiner Neugier basierende Tierversuchsforschung ist ethisch nicht zu rechtfertigen, blockiert den medizinischen Fortschritt und ist eine immense Verschwendung an Steuergeldern.“ Und: „Wie sinnvolle Hirnforschung aussehen kann, zeigen Forschergruppen der Universität Gießen. Am dortigen Zentrum für Psychiatrie werden zur Erforschung verschiedener Erkrankungen im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Neurowissenschaft das Denken und Erleben des Menschen und dessen neuronale Grundlagen bei Patienten und gesunden Menschen erforscht. Dabei konnten bereits viele klinisch wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden, die kranken Menschen zu Gute kommen.“

Und wir stehen jetzt wieder relativ ratlos dazwischen und wissen nicht, wer denn nun Recht hat. Eines aber meine ich zu wissen – die allermeisten Tierversuche braucht es nicht. Das belegen für mich schon die absurd hohen Zahlen. Bundesweit wurden, statistisch sauber gezählt, 2012 knapp 3,1 Millionen Tiere in Labors legal getötet. Darunter waren mehr als 2,2 Millionen Mäuse, außerdem 418000 Ratten, 166 000 Fische und 97 000 Kaninchen. Affen noch nicht mal mitgezählt.

Erzähl mir keiner, dass das nicht auch anders geht.

Klingelts?

August 29, 2014, Jürgen Löhle0 Kommentare
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Die gemeine Hausklingel findet man meist im Eingangsbereich. In dem schwarzen Feld unten ist ein Knopf zum Ausschalten. Kinderleicht.

Eines vorneweg – ich habe keine Ahnung ob der Göppinger Handballer Michael Kraus gedopt hat. Vom Gefühl her würde ich sogar sagen, eher nicht. Sein Freispruch ist trotzdem höchst problematisch.

Es ist unstrittig, dass Kraus bei drei Dopingkontrollen nicht anzutreffen war und dafür gehört er nach den Regularien für ein Jahr gesperrt. Das Sportgericht der Handballer hat ihn allerdings freigesprochen. Die Begründung: Kraus konnte glaubhaft versichern, dass bei der zweiten Kontrolle seine Klingel defekt war und er nur deshalb nicht geöffnet habe. Somit habe er nur zwei Tests versäumt und das sei noch kein Verstoß.

Wow, da haben es  die Handballer aber mächtig klingeln lassen. Wenn die Nationale Anti Doping Agentur (Nada) jetzt gegen diesen Freispruch keinen Einspruch einlegt, kann man das Kontrollsystem künftig in die Tonne kloppen. Wer nicht kontrolliert werden will, nimmt dann einfach die Hausklingel vom Netz und das war es dann. Sollte sich darüber einer beschweren, verweist der zu Kontrollierende auf den Fall Kraus. Sollte er trotzdem gesperrt werden, hätte er gute Chancen, das Urteil vom obersten Sportgericht CAS in Lausanne kassieren zu lassen. Gleichbehandlung ist schließlich ein Grundpfeiler des Rechts.

Kurzum – die Nada sollte den Freispruch unbedingt anfechten.

Im Übrigen hätte mich mal die öffentliche Reaktion interessiert, wenn ein Radprofi die Story von der kaputten Klingel erzählt hätte. Dreister Lügner wäre wohl noch das netteste. Aber das nur nebenbei.

Wasser über den Kopf? Wenn es denn hilft

August 25, 2014, Jürgen Löhle1 Kommentar

Es ist schon merkwürdig, wie man heute Aufmerksamkeit bekommen kann. Da schütten sich nun also Tausende Eiswasser über den Kopf, filmen sich dabei und nominieren andere, es Ihnen gleich zu tun. Ein wirklich selten dämliches Spektakel – allerdings, wenn es tatsächlich dem angegebenen Zweck dient, dann ist es nicht nur ok, sondern sogar wunderbar.

Aber wer kennt den Zweck eigentlich?

Wenn ich es richtig verstehe, sollen damit Spenden eingesammelt werden, die der Forschung gegen die Nervenkrankheit ALS dienen. Das wäre in der Tat  großartig, denn die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine grausame Krankheit. Durch Zerstörung der Nerven verliert der Patient mehr und mehr die Kontrolle über seinen Körper. Aber nicht über seinen Geist. Am Ende steht meist eine Atemlähmung bei vollem Bewusstsein und ein qualvoller Tod. Grausamer geht es kaum. Bei dem Physiker Stephen Hawking hat die Krankheit kurz vor diesem Stadium gestoppt, bei den allermeisten, wie zum Beispiel dem Maler Jörg Immendorff, endet die Krankheit freilich tödlich. Meist etwa schon zwei Jahre nach der Diagnose.

Ich habe vor ein paar Jahren ALS einmal nah erlebt. Der Wolfsburger Bundesligaspieler Krzysztof Nowak erkrankte an dieser Geißel, die nur etwa einen von 100 000 Menschen trifft, meistens Männer über 50. Nowak konnte bei unserem Treffen schon sein Glas nicht mehr selbst halten und saß im Rollstuhl. Neun Monate vorher hatte er noch in der ersten Liga gespielt. Nowak war ein starker Mann, aufrecht in einem hoffnungslosen Kampf. Und auch er wollte, dass geforscht wird. Nowak starb 2005 mit 29 Jahren. Noch heute gibt es übrigens die Krzysztof Nowak Stiftung, die ebenfalls Geld für die Erforschung von ALS sammelt. Allerdings ohne Eiskübel.

Aber gut, wenn man so Forschungsmittel akquirieren kann – dann los. Schön Wasser übern Kopf. Auch wenn es wirklich ziemlich dämlich ist.

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Der Untergang wird zur Auferstehung – vielleicht

August 22, 2014, Jürgen Löhle3 Kommentare

Der aus Stuttgarter Sicht provokanteste Satz vor dem Start der Fußball-Bundesliga stand in einem Leserbrief, den die Stuttgarter Zeitung in diesen Tagen druckte. Sinngemäß schrieb da ein langjähriger VfB-Anhänger, dass er sich das Pokalspiel der Kickers gegen Dortmund angeschaut habe und das Spiel der Degerlocher deutlich herzerfrischender und besser fand als das seines Vereins.

Das muss man mal wirken lassen. Irgendwie rechnet man ja danach mit einem Shitstorm gegen den Mann, mit der Erstürmung der Waldau durch die Cannstatter Kurve oder mit sonst was. Aber es blieb ruhig, was eigentlich nur den Schluss zulässt, dass viele in der Stadt nicht besonders optimistisch sind, was den VfB angeht. Man weiß ja, dass der durchschnittliche VfB-Anhänger superkritisch ist, dass für das Publikum auf der Haupttribüne zwischen Heilsbringer und Seggl manchmal nur ein Fehlpass liegt, aber derart Moll vor dem Start. Das ist schon neu.

Und deshalb wage ich hier eine These – je katastrophaler die Aussicht, desto überraschender meist das Ergebnis, alte Sportlerregel. Negative Prognosen von Experten und Fans die dann nicht eintreffen gehören zum Sport, immer schon. Besonders dunkel schauen ja immer die die Experten nach vorn. Wenn das allerdings immer eingetroffen wäre, hätten zum Beispiel seit Barcelona 1992 keine Olympischen Spiele und auch keine Fußball-WM mehr stattgefunden. Wird nicht fertig, wird vom Terror hinweggefegt, ertrinkt im Regen, versandet in der Schuldenfalle, erstickt im Streik-Chaos. Und so weiter.

Aber nachdem das alle nicht passiert ist, lautet umgeleitet auf die Bundesliga meine Prognose – der VfB wird Siebter. Und die Kickers steigen auf.