Jürgen

Löhle

Freier Journalist


Normale Härte

Je älter man wird, desto weniger wundert man sich über den Wahnsinn, der um einen herum tobt. Trotzdem bleiben genug Geschichten und Begebenheiten die man noch ein bisschen einordnen oder zuspitzen kann – am besten in einem Blog.

„Sie können die DDR nicht einfach leer kaufen“

November 10, 2014Jürgen Löhle1 Kommentar

Eine Geschichte zum Mauerfall aus dem Fußball

Fangen wir mit einer These an. Ohne ein Veto von Helmut Kohl wäre der VfB Stuttgart 1992 nicht Deutscher Fußballmeister geworden. Klingt ein wenig seltsam – könnte aber durchaus stimmen.

Der Start der historischen Geschichte datiert dagegen auf Samstag den 11. November 1989. Auf dem Berliner Flughafen landet der Leverkusener Bundesligamanager Reiner Calmund. „Magisch angezogen“ habe ihn der Mauerfall zwei Tage zuvor, sagt er heute, „ich wollte dabei sein, Berlin war immer schon meine Lieblingsstadt“. Aber „der Dicke“, wie ihn alle nennen, ist bei aller Euphorie dieser Tage auch ein gewitzter Manager, und so zieht es ihn nicht nur zum Athmo-Aufsaugen auf den Potsdamer Platz, sondern auch ins Olympiastadion im Westteil. Zweite Bundesliga steht auf dem Programm, Hertha BSC gegen Wattenscheid 09, normalerweise ein Kick, „bei dem du jedem Zuschauer einen Schnaps spendieren kannst und mit einer Flasche auskommst“, sagt Calmund. An diesem Tag pilgern 60 000 ins Rund, die allermeisten aus dem Osten, und Calmund spürt die ungeheure Kraft, die der Fußball ganz offensichtlich auch in der DDR hat.

Natürlich wusste der Manager, dass auch hinter der Mauer ein paar begnadete Kicker wohnen. Aber die waren unerreichbar für Westklubs, die konnte man weder anrufen noch hinfahren. Aber das war ja jetzt plötzlich anders, und während Calmunds Kollegen von München bis Dortmund noch über das politische Erdbeben staunten, wuchs in Calmund blitzschnell der Plan, die Besten aus dem Osten zu verpflichten – alle, und vor allem schnell, bevor die Herren Hoeneß und Kollegen auch noch aufwachten.

„Die Frage war nur, wie“, erinnert sich Calmund, „ich konnte zwar einfach in den Osten fahren, hatte aber weder Adressen und schon gar keine Erlaubnis für Spielerverhandlungen. Die Mauer war zwar offen, die DDR aber noch da.“ Gehindert hat Calmund das nicht. Als Erstes angelte sich der Dicke Andreas Thom, den besten Stürmer, den die DDR damals zu bieten hatte. Allerdings über Umwege: Calmund organisierte mit einer Notlüge („wir beobachten Toni Polster“) eine Fotografenakkreditierung für das Länderspiel Österreich – DDR am 15. November 1989 in Wien und schickte Wolfgang Karnath, sein Mädchen für alles, zur Kontaktaufnahme mit Thom ins Praterstadion. „Sieh zu, dass die Österreicher glauben, du wärst aus der DDR, und die aus der DDR müssen denken, du bist Österreicher“, gab er Karnath mit auf den Weg, der beim Spiel im Fotografenleibchen hinter der DDR-Bank stand. Ein paar Stunden später kehrte Karnath nach Deutschland zurück – mit der Adresse und Telefonnummer von Thom und mit einem Termin am nächsten Abend in Berlin.

Am nächsten Tag fuhr der Leverkusener Manager gegen den Trabistrom Richtung Osten. Er hatte Blumen für Frau Thom dabei, ein paar Spielsachen für Tochter Janina, aber vor allem hatte er die Adresse. „Das hätten wir nie gefunden“, erklärt Calmund. Thom wohnte in einem privilegierten Wohnblock, da gab es keine Namen an den Klingelschildern. Thom war schließlich der Stürmerstar des Stasi-Klubs Dynamo Berlin und Liebling von Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit der DDR und damit Chef von knapp 280 000 Spitzeln. „Ich habe dann in der Wohnung auch erst mal laut mit der Tapete gesprochen, ich wusste ja, die hören mit“, erzählt Calmund, der den nervösen Thom beruhigte, indem er mehrmals laut sagte: „Keine Sorgen, ich mach‘ das gleich morgen offiziell.“

Was er dann auch tat. Der Portier im Gebäude des Deutschen Turn- und Sportbunds (DTSB) in der Storkower Straße staunte nicht schlecht als „ich da plötzlich anwatschelte, einen Brief mit der Bitte, mit Thom verhandeln zu dürfen, abgab und höflich eine Empfangsbestätigung verlangte“ (Calmund). Die hat er auch bekommen, aber erst nach zwei Stunden, in denen der Manager durch eine Glastür von nahezu jedem wichtigen Mitarbeiter des mächtigen Dachverbands des DDR-Sports beäugt worden war. Mit den offiziellen Stempeln auf dem Papier beruhigte Calmund dann auch Thom und hatte kurz darauf dessen Unterschrift. Thom verdiente von da an 12 000 Mark brutto im Monat plus Prämien. Was heute im Profifußball wie ein Trinkgeld anmutet, war damals viel Geld. Leverkusens Spitzenspieler Thomas Hörster und Christian Schreier bekamen auch nicht mehr. Geld war auch der Motor für die schnelle Bereitschaft der DDR-Funktionäre. Für Thom zahlte Leverkusen eine Transfersumme von etwa drei Millionen Mark – aus heutiger Sicht unvorstellbar günstig.

Parallel zum Coup in Ostberlin schickte Calmund seine Unterhändler auch Richtung Dresden, wo die Nationalspieler Matthias Sammer und Ulf Kirsten bei Dynamo im Team standen. Kurz danach hatte er auch die beiden für Leverkusen an der Angel, wobei ihm bei Kirsten half, dass der Stürmer Flugangst hatte und nicht zu Verhandlungen nach Mailand fliegen wollte. Zehn Tage nach dem Mauerfall waren damit drei der besten Kicker vom neuen DDR-Markt weggefischt. In Leverkusen kamen aber nur zwei an, und wäre es nach Helmut Kohl gegangen, sogar nur einer – womit wir beim Anfang der Geschichte wären. Als der Kanzler erfuhr, dass Calli die großen drei an Leverkusen gebunden hatte, faltete Kohl persönlich die Spitzen der Bayer-AG zusammen. Calmund: „Kohl hat denen gesagt, dass man es sich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht erlauben könnte, so kurz nach dem Mauerfall drei DDR-Nationalspieler in einem einzigen Westteam zu präsentieren.“ Laut Calmund sagte Kohl wörtlich: „Sie können die DDR nicht einfach leer kaufen.“

Die Bayer-Chefs kuschten, und Calmund, der „treue Konservative“, verfluchte innerlich seinen Kanzler. Es half aber nichts – Sammer ging nach Stuttgart, an das er gute Erinnerungen vom Uefa-Cup-Halbfinale mit Dynamo Dresden 1989 hatte. Kirsten wollte zunächst nach Bochum, behielt aber Calmund als stillen Berater im Hintergrund, der ihm zu einem Wechsel nach Dortmund riet und dem damaligen Manager Michael Meier schon sagte: „Kirsten wird definitiv zu euch wechseln.“ Der Deal war also so gut wie perfekt, als Gert-Achim Fischer, der Präsident des Leverkusener Fußballvereins seinen Manager anrief. Die Chefs der Bayer-AG hatten beschlossen, jetzt doch nicht mehr auf den Kanzler zu hören. Calmunds Auftrag: „Wenn du den Kirsten noch umbiegen kannst, dann tu es.“

Calmund fuhr nach Berlin, passte Kirsten am Flughafen ab, der gerade von einer Reise mit der Nationalmannschaft zurückkam. Calmund verfrachtete Kirsten in sein Auto und fuhr mit ihm nach Dresden. Drei Tage später war der Vertrag fix und Dortmunds Manager Meier dermaßen in Rage, „dass er mich mit Worten beleidigt hat, die ich dem Mann nie zugetraut hätte“ (Calmund). Aber er konnte es verstehen. „Ich selbst wäre umgekehrt wahrscheinlich handgreiflich geworden“, sagt Calmund heute.

Ulf Kirsten wurde zu einem großen Star der Bundesliga, am Ende seiner Laufbahn 2003 stand er mit 182 Toren auf Platz fünf der ewigen Torjägerliste. Was Kirsten nicht schaffte, gelang dagegen Sammer. Der wurde, Kohl sei Dank, mit dem VfB Stuttgart Meister. Aber das dürfte das Einzige sein, was Reiner Calmund an der Geschichte nicht so gut gefällt.

 

 

Dieser Beitrag hat einen Kommentar
  1. Harald Schloz
    10. November 2014

    Hallo Jürgen,

    gute Geschichte, die mal wieder zeigt, dass es auch gute und gewitzte Manager gibt, die sich auskennen und sich auch etwas (zu)trauen.
    Viele Grüße an den VfB.
    Wie immer dein Fan
    Harald

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