Ist erschienen auf Reisestories.de
Normale Härte
Je älter man wird, desto weniger wundert man sich über den Wahnsinn, der um einen herum tobt. Trotzdem bleiben genug Geschichten und Begebenheiten die man noch ein bisschen einordnen oder zuspitzen kann – am besten in einem Blog.
Freibäder – teures Vergnügen
Stuttgarts Freibäder öffnen also zum Glück wieder am 15. Juni. Zu dem schönen Artikel in den StZN (https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.land-macht-weg-frei-fuer-oeffnung-der-freibaeder-schwimmer-muessen-sich-noch-gedulden.73b60ba0-d5a7-406b-a61f-78324d2cd33f.html) möchte ich etwas hinzufügen. Die Freibäder können künftig nur noch online gebucht und ebenfalls online und einzeln bezahlt werden können. Eine Dauerkarte gibt es 2020 also nicht. Dieses Online-Verfahren schließt die aus, die weder Internet noch Smartphone haben – und davon gibt es einige unter den Stammgästen, ich kenne persönlich etliche. Viele Dauerkartenbesitzer sind Rentner, der Besuch des Freibads ihr Sommervergnügen schlechthin. Und gleichzeitig Fitnessprogramm. Diese Klientel kommt nahezu jeden Tag. Die anderen Vielbesucher sind Sportschwimmer und Triathleten, die ebenfalls etwa 60mal und mehr pro Saison trainieren. Ich zum Beispiel brachte es 2019 auf 72 Besuche. Das hat mich als Dauerkartenbesitzer 2019 exakt 98 Euro gekostet, dieses Jahr wären dafür 237,60 Euro fällig. Kurzum – wer mehr als 30mal das Bad besuchen will, zahlt mehr als sonst, sollte er zudem einen Behindertenausweis haben gilt das schon ab dem 15. Besuch. Die neue, kürzere Saison wird von 15. Juni bis Mitte September etwa 100 Tage lang sein, da werden etliche der Dauergäste bei normalem Sommerwetter sicher mehr als 30mal gehen wollen. Das wird dann aber deutlich teurer. Ich will das nicht zu streng bewerten, viele können das verschmerzen und die Bäderbetriebe können auch jeden Cent gebrauchen. Trotzdem ist das Verfahren für viele die rechnen müssen eine gewaltige finanzielle Hürde, für die man dann gezwungenermaßen seine Cardio-Prophylaxe schleifen lässt. Vielleicht sollte man ja doch mal über ein Online-Buchungssystem nachdenken, dass Dauerkarten integrieren kann. Das müsste doch technisch lösbar sein – und wäre sozial fair.
Stuttgart hilft Tokio
Es gibt noch gute Nachrichten, die mir bereits exklusiv vorliegen: Stuttgart wird dem geplagten Tokio bei der Austragung der Olympischen Spiele 2021 helfen. OB Fritz Kuhn wird heute um zwölf Uhr in einer Video-Pressekonferenz (live im SWR Fernsehen) bekannt geben, dass die Landeshauptstadt einen Teil der Wettbewerbe der Spiele von Tokio in Stuttgart austragen wird, um so die räumliche Notsituation im olympischen Dorf in Tokio zu entzerren, wo ja bereits etliche Appartements auf den 1. Oktober 2020 verkauft sind. Kuhn rühmt die große Erfahrung Stuttgarts mit der Olympiabewerbung 2012 und denkt dabei an Disziplinen „die zu uns passen“ wie Bogenschießen, Moderner Fünfkrampf, Wasserball (im Neckar), Radrennen rund ums Neckartor und Badminton, das seinen Ursprung ja im grün-studentischen Federball habe. Auch Teile der Eröffnungsfeier wolle man stemmen – im Rathaus mit halben Buttrerbrezeln und Trollinger. Aus Japan war zunächst keine Reaktion zu bekommen, IOC Präsident Thomas Bach lehnte Stuttgarts Vorstoß zunächst als „indiskutabel“ ab, um zwei Stunden später in einer Pressemitteilung von einer „großartigen olympischen Solidarität, die ich zu 100 Prozent teile“ zu sprechen. Wohnen sollen die Athleten in einer Tunnelröhre von S 21, die aus Versehen gebohrt wurde, aber nicht gebraucht wird.
Die Tour de France trifft Deutschland
Am 1. Juli geht es los – Start der 104 Tour de France in Düsseldorf. Seit der ersten Auflage 103 habe auch immer wieder Profis aus Deutschland Geschichten beim größte Radrennen der Welt geschrieben – positive wie negative. Ich habe darüber ein Buch geschrieben, dass am 20. März erscheintz. Mehr dazu unter http://www.delius-klasing.de/buecher/Die+Tour+de+France
Hier schon mal eine kleine Leseprobe vom ersten deutschen Kontakt bei der ersten Tour de France 1903:
„Ein Bild ging um die Welt. Maurice Garin steht stolz und mit Siegerschärpe dekoriert hinter seinem Rennrad. In seinem Mundwinkel unter dem Schnauzer hängt lässig eine Zigarette, eine kecke Schiebermütze thront auf seinem Kopf. So sah er also aus, der Mann, der 1903 die erste Tour de France gewann. Die Filterlose im Mund des gelernten Schornsteinfegers ist ein Zeichen dafür, dass diese Rennen damals wirklich noch etwas komplett anderes war als heute. Irgendwie unvorstellbar und surreal. Man mag es kaum glauben, aber Ärzte haben den Rennfahrern damals geraten, vor dem Start zu rauchen. Das mache die Lunge so richtig frei, hieß es damals. Kein Witz. Und so skurril wie die Ansage der Weißkittel war das Rennen damals. Die erste Tour führte nur über sechs Etappen, war aber 2428 Kilometer lang. Die einzelnen Abschnitte maßen von 268 bis hin zu unglaublichen 471 Kilometern! Die Profis saßen dabei auf gut 25 Kilo schweren Stahlrädern, die weder eine Gangschaltung noch einen Freilauf kannten. Und das Ganze meist auf Naturstraßen. Wenn man Härte gegen sich selbst ins Quadrat setzen will – das wäre es wohl. Zumal Sieger Garin die Tortur mit einem Stundenmittel von 25,6 Kilometern hinter sich brachte. Trotz Zigaretten, Starrachse, schlechter Straßen und sonstiger Hindernisse.
Am Start der ersten Tour standen auch zwei Deutsche. Ludwig Barthelmann, der aber schon auf der ersten Etappe von Paris-Montgeron nach Lyon (467 Kilometer) aufgab. Ganz anders Josef Fischer. 1896 gewann der gebürtige Saarländer mit Wohnort München die erste Auflage des heutigen Klassikers Paris – Roubaix. Auf den zweiten deutschen Erfolg in der Kopfsteinpflaster-Hölle musste das Land danach 119 Jahre warten, ehe John Degenkolb 2015 auf der Radrennbahn in Roubaix als Erster über die Ziellinie raste. Fischer war ein bunter Hund, gewann Rennen wie Berlin – Wien über knapp 600 Kilometer, die, auch kein Witz, am Stück gefahren wurden. Der Mann trat auch bei Schaukämpfen an und sprintete einst schneller mit dem Rad, als William Cody Junior, der Sohn von Buffalo Bill, reiten konnte. 1903 war er aber bereits 38 Jahre alt und am Ende seiner Karriere, dennoch kam er durch und wurde schließlich als Fahrer des deutschen Kaiserreichs 15. des Gesamtklassements. Mit knapp 22 Stunden Rückstand auf Garin.“
Spar dich reich?
Alle Wetter, was für ein Angebot. Die Sparda-Bank wirbt im Radio mit dem Slogan „Spar dich reich“. Reich klingt gut. Aber mal im Ernst – es gibt von der Bank 0,66 Prozent Zinsen für ein 16 Monate festangelegtes Geld. Legt man 10 000 Euro an, bekommt man nach 16 Monaten 88,17 Euro Zinsen. Das reicht für ein hübsches Abendessen zu zweit mit mittelpreisigem Wein. So richtig reich ist das eher nicht, oder?
Hier mal reinschauen
http://reise-stories.de/nur-noch-neun-stunden/
Ich will es warm haben
Regeln sind wichtig, sie geben Halt und Orientierung in einer komplizierten Welt. Die Kehrwoche ist das Paradebeispiel. Regeln markieren aber auch, was ein Mensch nach Meinung anderer alles aushalten sollte. Zum Beispiel Kälte. Es gilt hierzulande als ausgemachte schwäbische Tugend, die Heizung auf keinen Fall vor dem 1. Oktober anzuschalten. Wer das trotzdem tut, ist ein wüster Verschwender, ein Weichei und überhaupt ein obachener Mensch. Das möchte natürlich keiner so gerne sein, aber abends in langen Unterhosen und Daunenjacke die eingeflossene polare Kaltluft im schlecht isolierten Wohnzimmer aushalten auch nicht. Aber keine Bange – wir präsentieren einige Tipps, wie man Nachbarn den rauchenden Kamin im September erklären kann, ohne in den Verdacht zu geraten, ein verschwendungssüchtiger Schwächling zu sein.
Tipp 1: Die Heizung laufe nur zu Testzwecken, die eine behördlich angeordnete emissionstechnische Nachuntersuchung nötig gemacht hat. Tipp 2: Eine in Mitteleuropa seltene Stoffwechselstörung des Meerschweinchens erfordere für die kommenden drei Tage eine konstante Raumtemperatur von 24 Grad. Tipp 3: Oma hat Krupphusten. Tipp 4: Opa hat Krupphusten. Wer keine Haustiere hat und auch nicht generationenübergreifend wohnt, kann noch hinter vorgehaltener Hand eine hehlinge Schnapsbrennanlage im Keller als Grund angeben. Das adelt eher. Also heizen Sie ruhig weiter und in drei Wochen darf man es dann ja auch.
Hat Kittel das wirklich verdient?
Keine Frage, Marcel Kittel hat in diesem Jahr noch keine guten Ergebnisse eingefahren. Keine Frage, ihn bei der Tour de France starten zu lassen, wäre für sein Team ein gewisses Risiko gewesen, weil Sprinter wie er Helfer brauchen, die ihn während des Rennens aus dem Wind nehmen, also für ihn arbeiten müssen. Wenn dann nichts dabei herauskommt, ist das natürlich bitter.
Trotzdem ist die Nichtnominierung völlig unverständlich und für Kittel ein böser Schlag ins Gesicht. Der Mann hat schließlich acht Touretappen gewonnen, wegen Athleten wie ihm ist die ARD wieder mit im Boot und Kittel gehört zu der Sorte mündiger Athleten, die selbst gesagt hätten, wenn ihre Form für eine Tour nicht reicht. Marcel Kittel hat das aber nicht gesagt, er war zuversichtlich und seine Formkurve zeigte auch nach oben. Er wollte fahren, sein Team partout nicht. Und das obwohl die Mannschaft Giant-Alpecin seit 1. Januar offiziell als deutsches Profiteam firmiert. Zumindest das ist angesichts der Entscheidung der Teamleitung nicht mehr als ein Etikettenschwindel. Ein deutsches Profiteam hätte der Selbsteinschätzung des erfolgreichsten heimischen Tourprofis vertraut und ihm bei dem geringen Risiko sicher die Chance gegeben. Giant-Alpecin ist aber doch eher eine internationale Mannschaft unter holländischer Leitung. Darüber sollte der Hauptsponsor Alpecin aus Bielefeld vielleicht einmal nachdenken.
Marcel Kittel wird die Tour also nicht fahren und er ist darüber maßlos enttäuscht. Völlig zu Recht.
Ein Mann gegen Barcelona
Vier Tore zu Hause hat der FC Barcelona international noch nie gefangen. Außer gegen Toni Kurbos. Der ehemalige Zweitligaprofi der Stuttgarter Kickers landete 1984 mit dem FC Metz in Nou Camp das ganz große Ding.
Zu klein sei er, zu schmächtig, nicht so richtig der Mann für die Härte der zweiten Bundesliga. Das war das Urteil von Slobodan Cendic, Trainer der Stuttgarter Kickers in der Saison 1980/81, über den 22-jährigen Rechtsaußen Zvonko Kurbos, den alle nur Toni nannten. 21 Spiele hatte das Kickers-Urgewächs in der zweiten Liga gemacht, zwei Tore erzielt, aber halten wollten sie den 1,70 Meter großen und 63 Kilo leichten Deutsch-Slowenen nicht. Dabei war der schon als 12-Jähriger nach Degerloch gekommen und mit den Kickers 1979 an der Seite von Guido Buchwald Deutscher A-Jugend-Meister geworden. Cendic interessierte das alles nicht. Kurbos sollte weg und Toni ging.
Zunächst nach Belgien zum SK Tongeren dann 1982 zum FC Metz in die erste französische Liga. In Lothringen ging es steil aufwärts mit dem kleinen Flügelflitzer. Kurbos traf und traf, gegen Nîmes sogar sechs Mal in einem Spiel, bis heute Ligarekord en France. Man nannte ihn den französischen Littbarski, Toni Kurbos ließ es weiter ordentlich krachen und spielte auch international für seinen Arbeitgeber. Und dabei kam es dann am 3. Oktober 1984 zu einem denkwürdigen Spiel im Stadion Nou Camp in Barcelona.
Eigentlich war die Sache schon gelaufen. Der glorreiche FC Barcelona hatte das Hinspiel in der ersten Runde im Europapokal der Pokalsieger in Metz 4:2 gewonnen, das Rückspiel wollten nur noch 15 000 Zuschauer sehen, eine Minuskulisse. Normal pilgern selbst bei Routinesiegen in der Liga mindestens 80 000 ins Nou Camp. Und als dann die Mannschaft von Trainer Terry Venables nach 35 Minuten durch Carasco 1:0 in Führung ging, breitete sich gepflegte Langeweile auf den Rängen aus. Aber nur kurz – denn dann kam Toni. Kurbos schoss den Ausgleich und provozierte noch vor der Halbzeit mit einer scharfen Hereingabe von rechts ein Eigentor der Katalanen. Nach der Pause erhöhte er auf 3:1 und hämmerte vier Minuten vor Schluss aus sieben Metern den Ball in den linken oberen Winkel. 4:1 für Metz, Barça war draußen. Das Team um Bernd Schuster und den Schotten Steve Archibald wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah, der Fußball hatte wieder eine seiner großen Geschichten und die Sportzeitung L’Equipe schrieb über das „Wunder von Barcelona.“ So etwas Ähnliches war es wohl auch – bis heute haben die Katalanen international zu Hause keine vier Tore mehr kassiert.
Nach dem Abpfiff wurde Kurbos von den Journalisten gekeilt, sein Team saß schon im Bus, während er noch nicht einmal geduscht war. Und Zeit für Bernd Schuster hatte er auch keine. Dabei wollte Kurbos doch unbedingt dessen Trikot haben – aber daraus wurde nichts, der blonde Engel war geknickt. „Der ist sauer an mit vorbeigerauscht“, erinnert sich Kurbos. Dagegen stand der wuselige Stürmer aus dem Schwäbischen im Brennpunkt. Nach dem Spiel interessierten sich viele Vereine für den kleinen Mann mit dem kühnen Schnauzer. Kurbos gab aber über die „Stuttgarter Zeitung“ seine ganz eigene Bewerbung ab. „Zum VfB Stuttgart würde ich auch zu Fuß laufen“, sagte er damals dem Blatt. Aus Cannstatt hat er freilich nie etwas gehört.
Toni Kurbos blieb in Frankreich, spielte bis 1992 in verschiedenen Vereinen, darunter auch bei den Top-Clubs in Nizza und Monaco und zuletzt im französischen Übersee-Departement La Réunion, eine Insel im Indischen Ozean. 1992 schnürte er dann noch mal für den Leonberger Stadtteilclub TSV Eltingen in der Verbandsliga die Kickstiefel, später arbeitet er dort bis 1996 als Trainer. Seit 1998 lebt Kurbos in Vence bei Nizza, hat einen französischen Pass und handelt mit Luxusautos. Fußball spielt der 55-Jährige auch noch – in der Traditionself des AS Monaco. Und in Frankreich sind seine vier Tore noch präsent. „Immer wenn ein französisches Team gegen Barça spielt, steht bei mir das Fernsehen vor der Tür“, erzählt er. Zuletzt wieder „acht TV-Teams“ (Kurbos) vor dem Viertelfinale zwischen Paris Saint-Germains und Barcelona. Ob Pep Guardiolas Faible für kleine, wendige Spieler aber mit Kurbos‘ Auftritt im Nou Camp zu hat, ist nicht bekannt. 1984 war der damals 13-Jährige heutige Bayern-Trainer aber schon in Barcelonas Jugendakademie. Vielleicht hat er Turbo-Toni ja gesehen?
Ein paar Monate nach dem 1:4 war Barça aber wieder obenauf. Am Ende der Saison wurde die Katalanen nach elf Jahren wieder mal nationaler Meister, Metz schied dagegen in der nächsten Runde des Europapokals aus – gegen Dynamo Dresden.
Nur nicht absteigen
Ninove. Es regnet, selbstverständlich regnet es. Frühling in Belgien, was will man da schon groß erwarten? Eben. Der Wind fetzt steif aus Nordwest, jagt dunkelgraue Wolkenfetzen über den schmutzig hellgrauen Himmel. Es wimmelt trotzdem von Menschen, die zu Hunderten, ach was zu Tausenden, am frühen Morgen im Freien stehen, offenbar gut gelaunt sind und seltsame Sachen tragen. Zum Beispiel wasserdichte Überschuhe und Handschuhe, mit denen man zur Not auch Geschirr spülen könnte. Ansonsten bunte Radklamotten, die unter dem grauen Himmel noch schriller wirken, als sie es sowieso schon sind. Willkommen bei der Flandern-Rundfahrt, einem Rad-Klassiker. Allerdings nicht bei dem für Profis, sondern beim Jedermann-Rennen am Tag davor.
Der Wind nimmt zu, das Wasser kommt waagrecht von vorne oder von hinten, je nachdem, wie man steht. Ach ja, die Temperatur: acht Grad. Bewegung kommt in die Masse, Pedale klicken, offenbar geht es los. 75 Kilometer auf belgischen Straßen, über kurze, steile Anstiege, die man hier Hellinge nennt, und, natürlich, über Kopfsteinpflaster. Im Moment geht es mir gut, nur hätte ich auch gerne wasserdichte Überschuhe. Nun ja 75 Kilometer – müsste machbar sein, das Rennen der Profis morgen ist fast viermal so lang und wir haben alle Zeit der Welt. Dass die Ausschreibung für die „Radtouristen“ aber auch für Mountainbiker gilt, hätte mich stutzig machen müssen. Hat es aber nicht.
Die Flandernrundfahrt am 3. April ist das zweite Weltcuprennen der Saison, ein so genannter Klassiker. Zusammen mit Paris-Roubaix und Lüttich-Bastogne-Lüttich zählt das Rennen zu den härtesten Eintagesprüfungen überhaupt. Vor allem, weil sich hinter dem Wort Straße oft etwas ganz anderes verbirgt, als wir gemeinhin so denken.
Der Startort für die Touristen heißt Ninove. Mein Hotel steht in Nazareth und jetzt geht es erst einmal Richtung Herzele, was nicht in Schwaben, sondern auch in Belgien liegt. Neben drolligen Namen haben die in Flandern auch drolliges Bier. Eines heißt Duvel (Teufel) und hat 8,5 Prozent Alkohol, was man mir gestern Abend leider etwas zu spät erklärt hat, aber gut. Ich fahre in einem dichten Pulk und bekomme den Straßenschmodder von vielen Hinterrädern ins Gesicht. Dafür tritt es sich leichter im Windschatten. Nach drei Kilometer gibt es fast einen Massensturz, weil ich an einer roten Ampel tatsächlich angehalten habe. Ganze Pulks weichen mir aus, ich verstehe nicht alles, aber ich glaube, sie fluchen. So etwa 16 000 „Wielertoeristen“ hetzen Jahr für Jahr am Tag vor dem Profirennen über den Kurs, viele sogar über die volle Länge von knapp 260 Kilometern. Aber an einer roten Ampel halten – auf diese Idee kommt nur einer.
Von einem Hinterrad vor mir spritzt plötzlich der pure Dreck nach hinten, also direkt auf mich. Das liegt daran, dass im Frühjahr sehr viele Bauern durch ihre Felder treckern und dabei viel zu oft mit viel zu dreckigen Reifen die Straßen queren. „Rennen in Belgien heißt Kuhmist im Gesicht“, hatte mir am Abend zuvor ein Profi gesagt, der aber nicht genannt werden will, weil er in Belgien wohnt. Ich versuche gerade mit einer Hand meine Brille ein wenig zu reinigen, als es mich fast über den Lenker haut. Das Rad hüpft und zittert, als hätte einer Starkstrom draufgelegt. „Kasseien“, brüllen einige um mich herum freudig erregt. Das ist flämisch, heißt Kopfsteinpflaster und ist für normale Menschen ungefähr so lustig wie eine Zahnsteinbehandlung.
Der besondere Reiz der Flandernrundfahrt und von Paris-Roubaix liegt aber offenbar genau an diesen Kopfsteinpfasterpassagen. Es gibt Profis, die der Meinung sind, das Gehoppele habe mit Radsport überhaupt nichts zu tun. Die kommen nicht. Andere lieben das unberechenbare Terrain. Vor allem Belgier, aber seltsamerweise auch Italiener. Auch John Degenkolb mag das Gerüttel. Warum auch immer.
Es ist ein Elend. Alles zittert, vor allem die Hände. Das Kreuz schmerzt, meine Trinkflasche verabschiedet sich aus der Halterung, die man vorher ein bisschen zubiegen sollte – wenn man’s weiß. Ich arrangiere mich mit einem Belgier, der Einzige weit und breit, der ein Tempo fährt, das ähnlich mickrig ist, wie meines. Von hinten hört man herausgepresste Laute wie „Hepp“ oder „Hopp“, die Fahrer ausstoßen, die an uns vorbei wollen. Wenn man zu weit in der Mitte radelt, rufen manche auch Dinge, die man nicht in einer Zeitung schreiben sollte. Schon gar nicht am Sonntag. Mein Begleiter schweigt und leidet still. Braver Mann. Den anderen scheint das Geholper zu gefallen, ich bin froh, dass es nach zwei Kilometern zunächst einmal vorbei ist. Zehn Sekunden später wackelt auch das Bild vor meinen Augen nicht mehr so. Noch 45 Kilometer.
Die Frühjahrsklassiker in Belgien und Nordfrankreich atmen die Atmosphäre wahrhafter körperlicher Arbeit. Die Faszination kommt von der sichtbaren Qual, da hier auch Sieger aussehen, wie nach einer Zehnstundenschicht im Schacht. So muss es sein, sagen übrigens auch viele Frauen und pilgern zu Tausenden an die Strecke oder in die vielen belgischen Radsportcafés.
Nach diversen weiteren Hoppeleien wird die Straße plötzlich steil, hundsgemein steil. Da Belgien keine hohen Berge hat, bauen sie ihre Straßen bolzengerade hinauf auf die Hügel. Keine Kurven, keine Gnade. Wir passieren den Rekelberg (neun Prozent Steigung) und den Berendries (14 Prozent). Es regnet nicht mehr, dafür peitscht der Wind noch brutaler, natürlich von vorn. Mein Belgier wird plötzlich ganz hippelig, obwohl wir auf Asphalt rollen. Er deutet nach vorn und lächelt selig. Ich höre „Mür“ (schreibe Muur) und verstehe: Vor uns liegen 825 Meter Kopfsteinpflaster mit bis zu 20 Prozent Steigung, die berühmte Kapelmuur von Geraardsbergen. Hinauf zur Kapelle schoben früher auch schon mal die Profis, deren Rennen aber heute nicht mehr über die Muur geht. Hier haut es dir fast die Kniescheiben raus vor lauter Treterei. Hier kannst du nur bei trockener Straße im Stehen fahren, weil sonst das Hinterrad einfach durchdreht. Hier müssen wir jetzt rauf – und es ist natürlich nass. Ich tröste mich mit dem Wissen, dass im Winter immer marode Steine ausgetauscht und die größten Löcher gestopft werden. Vor ein paar Jahren haben sie mal nach einer größeren Sanierung die alten Steine unter Radfans versteigert. Keiner blieb übrig.
Schaltungen knirschen gequält, Männer spucken und schniefen, jeder konzentriert sich. Am Straßenrand stehen Menschen mit Fotoapparaten, trinken Bier und lachen. Jetzt nur nicht absteigen. Mein Belgier wird sehr langsam, neigt sich plötzlich zur Seite, fällt um. Das Letzte, was ich von ihm sehe, ist sein nach oben gerecktes rechtes Bein. Ich komme tatsächlich vorbei, fühle mich unschlagbar, schaue auf den Tacho. Sechs Kilometer pro Stunde. Als ich wieder aufblicke, liegen sie vor mir kreuz und quer auf der Straße. Räder drehen sich ärmlich in der Luft, mehrsprachiges Gefluche im Angesicht der Kapelle. Ich fahre auf ein Hinterrad und falle um, 50 Meter vor dem Gipfel. Hinter mir brüllt einer dieses Wort, das ich nicht schreiben will, und stürzt auf mich drauf. Da der Mann stark schwitzt, ist das ziemlich eklig.
Dafür ist der Rest einfach: 15 Kilometer mit Rückenwind nach Ninove ins Ziel. Dort gibt es eine Medaille, ein Duschgel und ein T-Shirt für die 15 Euro Startgeld. Die meisten gehen nach der Schüttelei noch ins Bierzelt auf zwei, drei, vier Duvel. Warum auch nicht, mittlerweile scheint sogar die Sonne. Natürlich erst jetzt.