Ninove. Es regnet, selbstverständlich regnet es. Frühling in Belgien, was will man da schon groß erwarten? Eben. Der Wind fetzt steif aus Nordwest, jagt dunkelgraue Wolkenfetzen über den schmutzig hellgrauen Himmel. Es wimmelt trotzdem von Menschen, die zu Hunderten, ach was zu Tausenden, am frühen Morgen im Freien stehen, offenbar gut gelaunt sind und seltsame Sachen tragen. Zum Beispiel wasserdichte Überschuhe und Handschuhe, mit denen man zur Not auch Geschirr spülen könnte. Ansonsten bunte Radklamotten, die unter dem grauen Himmel noch schriller wirken, als sie es sowieso schon sind. Willkommen bei der Flandern-Rundfahrt, einem Rad-Klassiker. Allerdings nicht bei dem für Profis, sondern beim Jedermann-Rennen am Tag davor.
Der Wind nimmt zu, das Wasser kommt waagrecht von vorne oder von hinten, je nachdem, wie man steht. Ach ja, die Temperatur: acht Grad. Bewegung kommt in die Masse, Pedale klicken, offenbar geht es los. 75 Kilometer auf belgischen Straßen, über kurze, steile Anstiege, die man hier Hellinge nennt, und, natürlich, über Kopfsteinpflaster. Im Moment geht es mir gut, nur hätte ich auch gerne wasserdichte Überschuhe. Nun ja 75 Kilometer – müsste machbar sein, das Rennen der Profis morgen ist fast viermal so lang und wir haben alle Zeit der Welt. Dass die Ausschreibung für die „Radtouristen“ aber auch für Mountainbiker gilt, hätte mich stutzig machen müssen. Hat es aber nicht.
Die Flandernrundfahrt am 3. April ist das zweite Weltcuprennen der Saison, ein so genannter Klassiker. Zusammen mit Paris-Roubaix und Lüttich-Bastogne-Lüttich zählt das Rennen zu den härtesten Eintagesprüfungen überhaupt. Vor allem, weil sich hinter dem Wort Straße oft etwas ganz anderes verbirgt, als wir gemeinhin so denken.
Der Startort für die Touristen heißt Ninove. Mein Hotel steht in Nazareth und jetzt geht es erst einmal Richtung Herzele, was nicht in Schwaben, sondern auch in Belgien liegt. Neben drolligen Namen haben die in Flandern auch drolliges Bier. Eines heißt Duvel (Teufel) und hat 8,5 Prozent Alkohol, was man mir gestern Abend leider etwas zu spät erklärt hat, aber gut. Ich fahre in einem dichten Pulk und bekomme den Straßenschmodder von vielen Hinterrädern ins Gesicht. Dafür tritt es sich leichter im Windschatten. Nach drei Kilometer gibt es fast einen Massensturz, weil ich an einer roten Ampel tatsächlich angehalten habe. Ganze Pulks weichen mir aus, ich verstehe nicht alles, aber ich glaube, sie fluchen. So etwa 16 000 „Wielertoeristen“ hetzen Jahr für Jahr am Tag vor dem Profirennen über den Kurs, viele sogar über die volle Länge von knapp 260 Kilometern. Aber an einer roten Ampel halten – auf diese Idee kommt nur einer.
Von einem Hinterrad vor mir spritzt plötzlich der pure Dreck nach hinten, also direkt auf mich. Das liegt daran, dass im Frühjahr sehr viele Bauern durch ihre Felder treckern und dabei viel zu oft mit viel zu dreckigen Reifen die Straßen queren. „Rennen in Belgien heißt Kuhmist im Gesicht“, hatte mir am Abend zuvor ein Profi gesagt, der aber nicht genannt werden will, weil er in Belgien wohnt. Ich versuche gerade mit einer Hand meine Brille ein wenig zu reinigen, als es mich fast über den Lenker haut. Das Rad hüpft und zittert, als hätte einer Starkstrom draufgelegt. „Kasseien“, brüllen einige um mich herum freudig erregt. Das ist flämisch, heißt Kopfsteinpflaster und ist für normale Menschen ungefähr so lustig wie eine Zahnsteinbehandlung.
Der besondere Reiz der Flandernrundfahrt und von Paris-Roubaix liegt aber offenbar genau an diesen Kopfsteinpfasterpassagen. Es gibt Profis, die der Meinung sind, das Gehoppele habe mit Radsport überhaupt nichts zu tun. Die kommen nicht. Andere lieben das unberechenbare Terrain. Vor allem Belgier, aber seltsamerweise auch Italiener. Auch John Degenkolb mag das Gerüttel. Warum auch immer.
Es ist ein Elend. Alles zittert, vor allem die Hände. Das Kreuz schmerzt, meine Trinkflasche verabschiedet sich aus der Halterung, die man vorher ein bisschen zubiegen sollte – wenn man’s weiß. Ich arrangiere mich mit einem Belgier, der Einzige weit und breit, der ein Tempo fährt, das ähnlich mickrig ist, wie meines. Von hinten hört man herausgepresste Laute wie „Hepp“ oder „Hopp“, die Fahrer ausstoßen, die an uns vorbei wollen. Wenn man zu weit in der Mitte radelt, rufen manche auch Dinge, die man nicht in einer Zeitung schreiben sollte. Schon gar nicht am Sonntag. Mein Begleiter schweigt und leidet still. Braver Mann. Den anderen scheint das Geholper zu gefallen, ich bin froh, dass es nach zwei Kilometern zunächst einmal vorbei ist. Zehn Sekunden später wackelt auch das Bild vor meinen Augen nicht mehr so. Noch 45 Kilometer.
Die Frühjahrsklassiker in Belgien und Nordfrankreich atmen die Atmosphäre wahrhafter körperlicher Arbeit. Die Faszination kommt von der sichtbaren Qual, da hier auch Sieger aussehen, wie nach einer Zehnstundenschicht im Schacht. So muss es sein, sagen übrigens auch viele Frauen und pilgern zu Tausenden an die Strecke oder in die vielen belgischen Radsportcafés.
Nach diversen weiteren Hoppeleien wird die Straße plötzlich steil, hundsgemein steil. Da Belgien keine hohen Berge hat, bauen sie ihre Straßen bolzengerade hinauf auf die Hügel. Keine Kurven, keine Gnade. Wir passieren den Rekelberg (neun Prozent Steigung) und den Berendries (14 Prozent). Es regnet nicht mehr, dafür peitscht der Wind noch brutaler, natürlich von vorn. Mein Belgier wird plötzlich ganz hippelig, obwohl wir auf Asphalt rollen. Er deutet nach vorn und lächelt selig. Ich höre „Mür“ (schreibe Muur) und verstehe: Vor uns liegen 825 Meter Kopfsteinpflaster mit bis zu 20 Prozent Steigung, die berühmte Kapelmuur von Geraardsbergen. Hinauf zur Kapelle schoben früher auch schon mal die Profis, deren Rennen aber heute nicht mehr über die Muur geht. Hier haut es dir fast die Kniescheiben raus vor lauter Treterei. Hier kannst du nur bei trockener Straße im Stehen fahren, weil sonst das Hinterrad einfach durchdreht. Hier müssen wir jetzt rauf – und es ist natürlich nass. Ich tröste mich mit dem Wissen, dass im Winter immer marode Steine ausgetauscht und die größten Löcher gestopft werden. Vor ein paar Jahren haben sie mal nach einer größeren Sanierung die alten Steine unter Radfans versteigert. Keiner blieb übrig.
Schaltungen knirschen gequält, Männer spucken und schniefen, jeder konzentriert sich. Am Straßenrand stehen Menschen mit Fotoapparaten, trinken Bier und lachen. Jetzt nur nicht absteigen. Mein Belgier wird sehr langsam, neigt sich plötzlich zur Seite, fällt um. Das Letzte, was ich von ihm sehe, ist sein nach oben gerecktes rechtes Bein. Ich komme tatsächlich vorbei, fühle mich unschlagbar, schaue auf den Tacho. Sechs Kilometer pro Stunde. Als ich wieder aufblicke, liegen sie vor mir kreuz und quer auf der Straße. Räder drehen sich ärmlich in der Luft, mehrsprachiges Gefluche im Angesicht der Kapelle. Ich fahre auf ein Hinterrad und falle um, 50 Meter vor dem Gipfel. Hinter mir brüllt einer dieses Wort, das ich nicht schreiben will, und stürzt auf mich drauf. Da der Mann stark schwitzt, ist das ziemlich eklig.
Dafür ist der Rest einfach: 15 Kilometer mit Rückenwind nach Ninove ins Ziel. Dort gibt es eine Medaille, ein Duschgel und ein T-Shirt für die 15 Euro Startgeld. Die meisten gehen nach der Schüttelei noch ins Bierzelt auf zwei, drei, vier Duvel. Warum auch nicht, mittlerweile scheint sogar die Sonne. Natürlich erst jetzt.