Jürgen

Löhle

Freier Journalist


Normale Härte

Je älter man wird, desto weniger wundert man sich über den Wahnsinn, der um einen herum tobt. Trotzdem bleiben genug Geschichten und Begebenheiten die man noch ein bisschen einordnen oder zuspitzen kann – am besten in einem Blog.

Böse Menschen kommen nicht im Fernsehen

Juli 23, 2014Jürgen Löhle0 Kommentare

Gerade läuft wieder die Tour de France – aber wie erklärt man einem Kind, dass der Zehennagel eines Drittligaklickers im Fernsehen wichtiger ist als das größte Radrennen der Welt?   

Neulich lief ich mit Freunden und deren Kindern spazieren, als uns ein eine Trainingsgruppe Rennradler begegnete. „Papa, was machen die da?“, fragte der Sohn meines Kumpels. Als Experte übernahm ich die Antwort. Ich erklärte, dass es sich hierbei um Sportler handle, die auf Fahrrädern gegeneinander Rennen fahren würden. Ich erklärte weiter, dass dies einst ein Sport war, dem viele Menschen in Deutschland begeistert zugeschaut hätten und dass es einmal im Jahr, im Juli, ein gewaltiges Rennen quer durch Frankreich gäbe, das Millionen in seinen Bann ziehen würde. „Schauen wir uns mal ein Radrennen im Fernsehen an“, sagte darauf der Kleine und ich begann zu weinen.

Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, erklärte ich, dass im deutschen  Fernsehalltag selbst ein Bericht über einen eingewachsenen Fußnagel eines Aktiven in der dritten Fußballiga mehr Gewicht hätte, als eine Weltmeisterschaft der Radfahrer. Oder die Tour de France. Und ich fügte hinzu, dass dies oft auch für andere Sportarten wie Ringen, Fechten, Judo, Turnen, Tischtennis, Volleyball  und vielen, vielen anderen gelte. Nachdem mich das Kind bei manchen Disziplinen anschaute, als redete ich von höherer Mathematik, beschloss ich künftig an Wochenenden mit ihm und seinen Eltern zu Sportveranstaltungen zu gehen. So wie man früher Großstadtkinder einen Bauernhof auf dem Land zeigte, damit sie sahen, dass die Schnitzel mal laufen konnten.

„Und warum zeigt das Fernsehen keinen Sport“,  fragt das Kind. Ich erkläre, dass dies ja nicht so sei, dass es genug Bilder vom Fußball (Erste Liga, Zweite Liga, Dritte Liga, Regionalliga, Pokal, Europapokal, Länderspiele, Test-, Vorbereitungs-, Abschieds-, Benefiz- und sonstige Freundschaftsspiele),  vom Motorsport mit vier Rädern, vom Motorsport mit zwei Rädern und von Holzfäller-Weltmeisterschaften gäbe und die anderen Sportarten ja alle vier Jahre bei Olympia dran wären. Schwimmen und Leichtathletik sogar alle zwei Jahre, bei Weltmeisterschaften.

„OK“, sagt der Kleine, „aber warum sieht man keine Radrennen?“ Ich erkläre ihm, dass Radfahrer böse Menschen sind, weil sie ganz viele verbotene Medikamente schlucken würden und das sei nicht fair. „Nehmen Fußballer keine Medikamente?“, fragt das Kind. Wahrscheinlich ein paar weniger, antworte ich, aber das will sowieso keiner wissen. „Warum?“ Weil Fußball Fußball ist und dann – und dann fällt mir nichts mehr ein. Das Kind fragt dann noch, ob Turner, Ringer und all die anderen auch böse sind, weil sie kaum im Fernsehen kommen. Ich nötige den Vater dem Balg ein Eis zu kaufen, damit endlich Ruhe ist.

Offenbar ist das Kind mit der Erklärung der modernen TV-Realität zufrieden. Als die Radler ein zweites Mal vorbeikommen, senkt es den eisverschmierten Daumen und buht. Ich könnte schon wieder heulen.